Sendung: Mittendrin Redaktion
AutorIn: Ben Mendelson
Datum:
Dauer: 06:22 Minuten bisher gehört: 194
Weggegangen, Platz vergangen: Diese vermeintliche „Regel“ kennen viele noch aus dem Kindergarten. Wie aber bei weggeworfenen Dingen die Regeln im wirklichen Leben sind, ist für viele unverständlich. Wer zum Beispiel aus einer Mülltonne eines Supermarktes Essen nimmt, das vom Personal weggeworfen wurde, obwohl es noch essbar ist, begeht in Deutschland Diebstahl. Das sogenannte „Containern“ steht unter Strafe. Das mussten zwei Studentinnen aus Bayern erfahren, die im Sommer 2018 in der Nähe von München an einem offenen Supermarkt-Container erwischt wurden. Sie haben sich gegen ihr Urteil gewehrt und sind nun vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert. Wie genau der Fall sich entwickelt hat und was den Studentinnen Hoffnung macht, berichtet Ben Mendelson.

Manuskript

Text

Was andere weggeworfen haben, halten sie noch für genießbar: Einige Menschen in Deutschland „containern“, das heißt, sie entnehmen aus Mülltonnen von Supermärkten oder Bäckereien verwertbare Produkte. Den bayerischen Studentinnen, die im Juni 2018 beim „Containern“ erwischt wurden, boten das Amtsgericht Fürstenfeldbruck und die Staatsanwaltschaft an, das Verfahren einzustellen gegen die Ableistung von acht Stunden gemeinnütziger Arbeit. Das lehnten die Studentinnen aber ab: Ihnen ging es um das Prinzip. "Containern" sollte nicht als strafbare Handlung angesehen werden. Das Amtsgericht Fürstenfeldbruck verurteilte die beiden daraufhin im Januar 2019 wegen gemeinschaftlich begangenen Diebstahls zu 15 Tagessätzen à 15 Euro oder gemeinnütziger Arbeit. Eine Revision vor dem Obersten Landesgericht von Bayern gegen den Schuldspruch wegen Diebstahls blieb erfolglos. Daraufhin legten die Studentinnen Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein. Diese Beschwerde blieb allerdings ohne Erfolg, wie Anfang August bekannt wurde. Das Verfassungsgericht sah in den vorherigen Instanzen keine Rechtsfehler. Eingangs griff die 3. Kammer des Zweiten Senats die Argumentation des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck auf:

 

O-Ton 1, Urteil des Bundesverfassungsgerichts, 24 Sekunden

"Auch die Wertlosigkeit einer Sache als solche gewähre Dritten nicht das Recht zur Wegnahme. Aus dem Umstand, dass die Lebensmittel zur Entsorgung in einen Abfallcontainer geworfen worden seien, folge nicht zwingend, dass dem Eigentümer das weitere Schicksal der Sache gleichgültig sei. Eine Eigentumsaufgabe komme vielmehr nur dann in Betracht, wenn der Wille vorherrsche, sich der Sache ungezielt zu entäußern. So liege der Fall hier jedoch nicht."

 

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Denn immerhin seien die Mülltonnen auf dem Gelände des Supermarkts abgestellt worden und noch dazu verschlossen gewesen. Die Studentinnen hatten die Müllcontainer mit einem einfachen Vierkantschlüssel geöffnet. Für viele Menschen ist so eine Verurteilung fürs "Containern" wenig nachvollziehbar. Das betrifft vor allem jene Menschen, die selbst "containern" gehen. In Göttingen sind das schätzungsweise mehrere Dutzend Personen. Martin Krause ist einer von ihnen. Seit anderthalb Jahren sammelt er immer mal wieder solche Lebensmittel ein, die von den Supermärkten der Region weggeworfen werden. Krause sagt, im Sommer kaufe er trotzdem gut die Hälfte des Gemüses, das er isst, selbst im Supermarkt ein. Im Winter, wenn die Inhalte der Tonnen aufgrund der Temperaturen weniger angegriffen werden, bekomme er aber über zwei Drittel des von ihm konsumierten Gemüses aus den Containern von Läden. Mit einem Vierkantschlüssel oder einem Brecheisen ist er dabei nicht unterwegs. Seine Ausrüstung ist deutlich profaner. Neben Jutebeuteln und einer Taschenlampe sei folgendes im Gepäck, erzählt Krause:

 

O-Ton 2, Martin Krause, 24 Sekunden

"Also wir haben meistens so 60- bis 80-Liter-Rucksäcke dabei. Also in diesen Rucksäcken sind meistens gelbe Säcke, die wir dann auch immer wieder verwenden. Also die werden nicht weggeschmissen, sondern danach ausgespült, damit die nicht versaut werden, wenn da mal etwas ausläuft. Dann haben wir eine 1-Liter-Flasche Wasser dabei, Handwaschmittel, das umweltverträglich ist, und meistens auch Handschuhe, die waschbar sind."

 

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Um die Rucksäcke zu füllen, reiche es meistens aus, bei drei oder vier Supermärkten Halt zu machen, erzählt er. Wie viel Verwertbares in den Tonnen zu finden sei, sei aber immer unterschiedlich. Krause sagt, es sei für ihn unverständlich, Menschen die "Containern" gehen, zu verurteilen. Es sei doch eine gute Tat, Lebensmittel zu retten - und nicht schädlich für die Gesellschaft. In Frankreich wurde 2016 ein landesweites Gesetz beschlossen, das Supermärkte verpflichtet, unverkaufte Lebensmittel an Tafeln und andere Organisationen weiterzugeben. Das unnötige Wegwerfen von Lebensmitteln steht dort nun unter Strafe. Davon ist Deutschland weit entfernt. Allerdings: Dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde der bayerischen Studentinnen abgelehnt hat, bedeutet nicht unbedingt eine juristische Verurteilung des "Containerns". Es heißt lediglich, dass es im Rahmen des Grundgesetzes eine mögliche Lösung darstellt, "Containern" als Diebstahl zu bewerten, so das Gericht:

 

O-Ton 3, Urteil des Bundesverfassungsgerichts, 23 Sekunden
"Diese strafrechtliche Wertung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Denn durch die Wegnahme fremden Eigentums werden wichtige, grundrechtlich geschützte Belange Dritter gefährdet. Der Gesetzgeber, der bisher Initiativen zur Entkriminalisierung des Containerns nicht aufgegriffen hat, ist insofern frei, das zivilrechtliche Eigentum auch in Fällen der wirtschaftlichen Wertlosigkeit der Sache mit Mitteln des Strafrechts zu schützen."

 

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Das Verfassungsgericht verweist hier also darauf, dass es Aufgabe des Gesetzgebers wäre, das "Containern" zu entkriminalisieren. Doch bislang bewegt sich dort nichts: Im letzten Jahr kamen alle Justizministerinnen und Justizminister der Bundesländer zusammen und diskutierten auf Anregung des Hamburger Justizsenators von den Grünen über eine mögliche Legalisierung der Lebensmittelrettung aus Containern. Doch die Mehrheit der CDU-Justizminister lehnte seinen Vorstoß ab. Martin Krause hat für solche politischen Entscheidungen kein Verständnis. Ihm und seinen Mitstreitenden in Göttingen geht es nicht vorrangig darum, durch das "Containern" Geld zu sparen. Krause will vor allem auf Missstände im System hinweisen. Ihm geht es um die politische Dimension.

 

O-Ton 4, Martin Krause, 36 Sekunden

"Wir haben das Gefühl, dass in unserer Gesellschaft extrem viel weggeschmissen wird und kein Wert auf Produkte gelegt wird, die ganz kleine Mängel haben. Sei es jetzt vielleicht eine Delle in der Tomate oder eine Gurke, die schon ein bisschen verschrumpelt ist. Und diese Dinge landen dann meistens im Müll. Und das ist für uns ein bisschen schmerzlich mit anzusehen, da wir wissen, dass Lebensmittelknappheit in vielen Teilen der Erde noch vorherrscht und das eigentlich eine Geisteshaltung ist, die wir nicht unterstützen wollen, weshalb wir mit dem Herausholen dieser Lebensmittel aus den Mülltonnen dagegen vorgehen und auch dagegen protestieren.

 

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Stand jetzt bleibt dieser Protest gegen Lebensmittelverschwendung allerdings eine Straftat. Doch die Tatsache, dass "Containern" als Diebstahl gewertet wird, hält viele Menschen in Deutschland nicht davon ab, weiterhin verwertbare Lebensmittel aus Mülltonnen von Supermärkten zu holen. Das Amtsgericht in Bayern, gegen dessen Verurteilung sich die beiden Studentinnen vor dem Bundesverfassungsgericht wehren wollten, wollte das Verfahren schon wegen Geringwertigkeit der Sachen einstellen lassen. Das verhinderte die Staatsanwaltschaft. So haben die beiden "containernden" Studentinnen jetzt immerhin öffentliches Interesse für ihr Anliegen erreicht. Und möglicherweise findet sich in Zukunft auch in Deutschland eine politische Lösung, um "Containern" zu entkriminalisieren und stattdessen unnötige Lebensmittelverschwendung unter Strafe zu stellen.