Sendung: Mittendrin Redaktion Kommentar
AutorIn: Johannes Meinecke
Datum:
Dauer: 6:39 Minuten bisher gehört: 160
Als junger Mensch in Deutschland hat man die Wende entweder gerade noch so am Rande miterlebt und vielleicht sogar registriert, was damals bei den Erwachsenen für eine Aufregung geherrscht hat, oder: sie hat in dem eigenen Leben nie wirklich eine Rolle gespielt, auch wenn sie natürlich Teil der eigenen Herkunft oder zumindest der Geschichte des eigenen Landes ist. Aber: Welchen Stellenwert nehmen die Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland und die immer wiederkehrenden Klischees der „Wessis“ und „Ossis“ eigentlich in den Köpfen von Menschen ein, die beide Seiten ziemlich gut kennen? Unser Redakteur Johannes Meinecke ist in Weimar in Thüringen aufgewachsen und hat mehrere Jahre in Konstanz am Bodensee, in Leipzig und in Göttingen gelebt. Hier hören Sie seinen Kommentar zu 30 Jahren friedlicher Revolution.

Manuskript

Text

30 Jahre gehen erstaunlich schnell ins Land. Die friedliche Revolution hat Deutschland grundlegend verändert. Die Talkshows und Tagungsorte sind pünktlich zur feierlichen Erinnerung an dieses wichtige politische und kulturhistorische Ereignis voll mit Menschen, die immer wieder ein ähnliches Narrativ wiederholen: Der goldene, starke, kulturell und ökonomisch überlegene Westen hat den armen, schwer unterdrückten Osten befreit. Endlich dürfen die da mal Bananen kaufen, Klasse! Endlich können sich die da drüben auch in unser Hamsterrad einfügen, in dem Menschen außer ihrer Arbeit nichts wert sind. Dafür wollen wir aber auf jeden Fall auch ein ordentliches Danke und kein Gejammer hören, bitteschön. Auf den öffentlichen Dresdener Plätzen, im Thüringer Landtag und vor allem in den ländlichen Kommunen der neuen Bundesländer geht die Erzählung ein wenig anders: Damals war nicht alles schlecht, heißt es da. Wir konnten zwar nicht über alles mit jedem reden, aber wenigstens haben wir aufeinander aufgepasst. Und dann kamen die von drüben mit ihrer Arroganz und haben sich alles unter den Nagel gerissen, was wir jahrelang aufgebaut haben. Plötzlich standen wir vor dem Nichts und jetzt sollen wir das Wenige, was wir wieder aufgebaut haben auch noch teilen? Auf keinen Fall noch mehr Veränderung, es langt!

Ich kenne diese beiden Erzählungen aus erster Hand, aber welche stimmt? Wie bei fast allen Streits um die Deutungshoheit gilt auch hier: Keine der Seiten ist für sich alleine wahr, sondern sie sind gegenüberliegende Pole eines Spektrums von Standpunkten. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte: Natürlich war in der DDR nicht alles rosig. Die Planwirtschaft war am Ende nur noch eine Mangelverwaltung. Hinten und vorne gab es einfach nicht genug für die Menschen, auch wenn die sich gut anpassen konnten. Wer so etwas Exotisches wie Fliesen in seinem Bad wollte, musste windige Deals eingehen, einen Haufen Kontakte haben und das Zeug am Ende selbst verlegen. Alle hatten einen Job und genug Geld – aber es gab einfach nichts Vernünftiges, was man davon hätte kaufen können. Nicht mal ein paar Bücher oder neue Musik oder etwas Kleidung, einfach nix! Wenigstens war das lästige Wählen einfach, denn man durfte ja eigentlich nur eine Partei ankreuzen, wenn man keinen Stress wollte. Alles musste schön konform und angepasst sein und der Partei gefallen. Wer nicht spurte wurde denunziert, verlor seinen Job oder wurde sogar eingesperrt – sogar wenn man nur ein paar dilletantische Verse in einer Dorfkneipe auf der Gitarre schrammelte. Aber auch die Westerzählung haut nicht vollständig hin. Der Kapitalismus ist zwar das effektivere Wirtschaftssystem, aber er ist nicht in der Lage von sich aus Gerechtigkeit zu erschaffen, so treffend von Gregor Gysi in einem Interview mit Jung & Naiv analysiert. Insgesamt kann der Kapitalismus schnell großen Reichtum für alle erzeugen – aber der kommt bei Vielen einfach gar nicht an. Und hat man wirklich das schönere Leben, nur weil man mehr Sorten Obst kaufen kann? Vielleicht geht es auch ohne ganz gut, wenn dafür zum Beispiel das soziale Umfeld stimmt. Denn: der Kapitalismus läuft zwar rund, aber nur auf materieller Ebene. Trotz niedrigster Arbeitslosenzahlen, enormem finanziellen und materiellen Wohlstand im Vergleich zu 90 Prozent der restlichen Weltbevölkerung, Reise- und Meinungsfreiheit scheinen die Menschen in der schönen, neuen Deutschland-Welt immer trauriger, zurückgezogener und kälter zu werden. Gerne werden die negativen Seiten der Selbstoptimierung und ständig geforderten Dauereffizienz vergessen. Die psychischen Krankheiten häufen sich in allen Altersgruppen: Depressionen, Burn-Out, chronische Überforderung des Einzelnen bereits im Jugendalter und besonders stark auf dem Vormarsch: Einsamkeit. Alle haben ein Handy, chatten unentwegt, aber sind dabei eigentlich schrecklich alleine. Immer mehr Menschen müssen im Alter einsam leben, werden ins Heim abgeschoben oder hocken trübe und trist in ihrer Beton-Neubauwohnung. Denn: Familie und andere soziale Bindungen sind in der Welt der permanenten Selbstverwirklichung einfach nicht mehr wichtig. Alle arbeiten schließlich gegeneinander und sind Konkurrenten auf dem Markt. Ein Miteinander ist schwerer herstellbar, denn es kostet einfach Zeit, und in der könnte man ja auch noch mehr Geld anhäufen. Aber: Auch der Topmanager merkt vielleicht irgendwann im Alter, dass es auch andere Sachen im Leben geben könnte, als materiellen Besitz. Alle laufen blind mit, aber merken nicht: Wir erkaufen uns den Wohlstand auch auf Kosten unserer Seele.

Aber wenn nun diese Erzählungen über unsere zerteilte, nun geteilte Vergangenheit nur zum Teil stimmen, was machen wir denn nun in Zukunft mit diesem Land? Ein bisschen Demut wäre meiner Meinung nach auf allen Seiten angebracht: Unsere Demokratie schwächelt gerade ernsthaft und hat nicht mehr den gesamtgesellschaftlichen Diskurs als Stütze hinter sich. Vielen sind die ganzen Freiheiten für alle zu viel, oder sie wollen Freiheit, wenn schon, dann bitte nur für sich. Das Hervorkramen der ewig alten Klischees über die dummen, naiven Ossis oder die arroganten, herabblickenden Wessis sollte man sich einfach sparen, wenn man nie auf der anderen Seite war oder sich die Mühe gemacht hat, dort zu leben und zu versuchen, die Menschen zu verstehen. Das wir nach 30 Jahren überhaupt noch in den alten Kategorien denken und diese Worte benutzen müssen, ist eigentlich schon an sich ein absolutes Armutszeugnis für uns alle. Denn wir sitzen im selben Boot aus deutscher Eiche. Die Probleme, die wir als gesamtdeutsche Gesellschaft dringend anpacken müssten, sind viel größer als diese kleinlichen Spielchen, wer nun überlegen ist oder gewonnen hat. Der Westen hätte nach der Wende auch mal anerkennen können, das es im Osten gute Ideen bei Ausbildung von Pflegern, im Gesundheitssystem und anderen gesellschaftlichen Bereichen gab. Nicht mal ein winziges Element wurde auf der Flagge erneuert, es gab keine neue Strophe in der Landeshymne, null. Der Osten wurde einfach geschluckt und sollte sich darüber freuen, aber echte Wertschätzung und Verständnis sehen wirklich anders aus. Und für den Osten: Die Menschen im Westen sind nicht alle völlig kalt, arrogant und ferngesteuert. Viele wollten damals wirklich helfen und Gutes tun und sind einfach an der Realität und dem Alltag gescheitert. Oder sie wussten es auch einfach nicht besser. Wir aus dem Osten können aber aus Erfahrung zeigen, dass ein Leben mit mehr Ehrlichkeit, Direktheit und menschlicher Nähe ebenfalls lebenswert sein kann. Letztendlich sind wir alle nur Menschen und wollen doch eigentlich das Gleiche: ein gutes Leben führen und etwas Glück finden. Das ständige, allgegenwärtige Abwerten von anderen Gruppen ist wirklich das Letzte, was auf diesem Weg hilft.