Sendung: Mittendrin Redaktion Kommentar
AutorIn: Mailin Matthies
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Der Aktionstag One Billion Rising macht heute in der Göttinger Innenstadt auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufmerksam – mit einer Tanzchoreographie. Mailin Matthies hat in einem Kommentar einmal zusammengetragen, wieso es immer noch so wichtig ist, geschlechterspezifische Gewalt öffentlich zu thematisieren.

Manuskript

 

Text

„Frau in Göttingen auf offener Straße getötet – Täter auf der Flucht“, „Mord in der Wiesenstraße: 44-jähriger IT-Spezialist soll Ex-Freundin erwürgt haben“, “Schlafender Ehefrau in Kopf geschossen: Mann zu 13 Jahren Haft verurteilt“ – all das sind Schlagzeilen aus der Region, aus Göttingen und Einbeck, nicht älter als fünf Jahre. Und all das sind keine Einzelfälle: 2021 gab es in Deutschland nach Angaben des Bundeskriminalamts 113 Femizide. Femizide sind Morde an Frauen, die sich darin begründen, dass das Mordopfer eine Frau ist – wenn also ein Mann beispielsweise seine Exfreundin umbringt, weil er die Trennung nicht akzeptieren kann. Das heißt: Etwa alle drei Tage passiert in Deutschland ein Femizid.

Und so weit muss es gar nicht kommen. Jede dritte Frau in Deutschland ist in ihrem Leben von sexueller und/oder körperlicher Gewalt betroffen. Das belegen Zahlen des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Gegen Gewalt an Frauen und Mädchen richtet sich heute ein Aktionstag in der Göttinger Innenstadt. Unter dem Titel „One Billion Rising“ treffen sich Teilnehmende am Gänseliesel für eine Tanzchoreographie. Sie nutzen den Valentinstag, um auf ein Problem aufmerksam zu machen, das gerne an den Rand des gesellschaftlichen Bewusstseins gedrückt wird. Häusliche Gewalt, sexuelle Gewalt, klar, das ist ein Problem, da sind sich viele einig. Aber hier in Deutschland? Bei mir in der Stadt? Bei mir im Freundeskreis? Nein, das kann nicht sein. Anna Maierl vom Gleichstellungsbüro der Stadt Göttingen fasste es im Interview mit dem StadtRadio treffend zusammen: Jede dritte Frau in Deutschland ist in ihrem Leben betroffen. Das hieße, man könne durch die Göttinger Fußgängerzone gehen und abzählen - und die Statistik werde wohl Recht haben, sagte sie.

Dabei hat auch Deutschland die sogenannte Istanbul-Konvention ratifiziert - ein Übereinkommen, das die unterzeichnenden Staaten dazu verpflichtet, sogenannte geschlechterspezifische Gewalt zu bekämpfen. Durch die Ratifizierung ist die Konvention geltendes Recht in Deutschland. Hilfsangebote wie Frauenhäuser, aber auch der rechtliche Rahmen und Maßnahmen zur Prävention beispielsweise durch Sensibilisierung der Öffentlichkeit gehören zu den Verpflichtungen.

Erste Auswertungen einer Expertenkomission seit der Unterzeichnung 2011 und der Ratifizierung 2018 zeigen Fortschritte. Sie zeigen aber auch: Deutschland hat einen langen Weg vor sich. Besonders Frauen mit Fluchterfahrung seien hier auch aufgrund der Rechtslage oft schlechter geschützt. Auch der Umgang mit Opfern bei Polizei und anderen offiziellen Stellen steht immer wieder in der Kritik. Viele Betroffenen holen sich keine Hilfe, weil sie sich schämen oder Angst haben, nicht ernst genommen zu werden. Umso wichtiger ist es, auch selbst die Augen offen zu halten bei Bekannten, bei Freunden, in der Öffentlichkeit - und dann auch nachzufragen, wenn einem etwas komisch vorkommt. Verhindert werden können viele Taten so trotzdem nicht, aber wenn jede und jeder mit einer Prise mehr Aufmerksamkeit durch seinen Tag geht, kann schon viel gewonnen werden. Und vielleicht hilft auch eine Tanzchoreographie am Gänseliesel, um genau diese Aufmerksamkeit das zu erreichen.