Sendung: Mittendrin Redaktion
AutorIn: Emilia Kröger
Datum:
Dauer: 05:14 Minuten bisher gehört: 362
Ein ganzer Kontinent lag in Trümmern und etwa 55 Millionen Menschen hatten ihr Leben verloren. Am Ende des Zweiten Weltkriegs stand Deutschland vor einer scheinbar unmöglichen Aufgabe: Die Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. Überwältigend ist diese Aufgabe wohl auch, weil sie niemals zu Ende sein wird. Das Nachforschen, Nachfragen, Erinnern und das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus ist ein unauslöschlicher Teil der deutschen Identität. Hans-Georg Schwedhelm hat es mit dem Nachforschen genauer genommen: Er hat sich auf die Suche nach den behinderten Menschen begeben, die der Naziideologie zum Opfer fielen. Da in ganz Deutschland die Opferzahl auf etwa 350.000 Menschen geschätzt wird, fing Schwedhelm im Kleinen in seiner Heimat an: Er forschte nach Opfern von Krankenmorden und Zwangssterilisationen in Duderstadt. Seine Ergebnisse hören Sie nun in einem Beitrag von Emilia Kröger.

Hans-Georg Schwedhelm mit seinem Buch über Krankenmorde in Duderstadt (Bild: Emilia Kröger)

Manuskript

Text

„Zuerst wurden die Behinderten vergast und dann die Juden.“ Mit diesem Satz beginnt Hans-Georg Schwedhelm sein Buch, in welchem er die lokalen Quellen veröffentlicht, die er zu Krankenmorden und Zwangssterilisationen während der NS-Zeit recherchiert hat. Die Ermordung von ca. 350.000 behinderten Menschen von den Nationalsozialisten ist nur wenig aufgearbeitet worden. Schwedhelm hat sich daher der Frage gewidmet, was mit den behinderten Menschen aus dem Untereichsfeld während der NS-Zeit geschehen ist.

 

O-Ton 1, Hans-Georg Schwedhelm, 24 Sekunden

Man muss sagen, dass die Bundesrepublik Deutschland nach '45 sowieso insgesamt sehr schlecht mit dem Thema umgegangen ist, also das heißt erst in den letzten Jahren gibt es Veröffentlichungen zu dem Thema. Und das Ergebnis ist ja, dass man eine Reihenfolge feststellen muss leider, dass die Nationalsozialisten erst die behinderten Menschen ermordet haben, an denen haben sie das ausprobiert, wenn man das so sagen darf, und anschließend haben sie die jüdischen Mitbürgerinnen und -bürger getötet.“

 

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Diese Krankenmorde fanden bis 1941 in Tötungsanstalten statt, wo die behinderten Menschen vergast wurden. Die Opfer aus dem Raum Göttingen wurden meist in den Anstalten in Pirna-Sonnenstein und Hadamar ermordet. In dieser ersten Phase wurden in etwa 50.000 bis 70.000 Menschen getötet. Danach begann in der zweiten Phase ab August 1941 der dezentrale Ablauf der Krankenmorde. Die Opfer wurden nicht mehr planmäßig in Tötungsanstalten transportiert, sondern von Ärzten und Pflegern ermordet, indem diese die behinderten Menschen meist verhungern ließen. Der Umbruch von der ersten in die zweite Phase lässt sich durch den öffentlichen Protest erklären, der 1941 laut wurde.

 

O-Ton 2, Hans-Georg Schwedhelm, 26 Sekunden

Nachdem etwa 50.000 Menschen ermordet waren, hat es in der Öffentlichkeit natürlich eine Diskussion darüber gegeben. Also die Nazis haben versucht, das geheim zu halten. Es gab kein Gesetz, es gab keine öffentlichen Bekanntmachungen dazu, also es war total geheim. Trotzdem hat es sich einfach ... man hat es erfahren. Behinderte sind nicht wiedergekommen, Behinderte sind verlegt worden und so weiter und man hat nachgefragt. Und es gab im Prinzip eine große Organisation, die sich auch massiv dagegen gewehrt hat, das war die katholische Kirche.“

 

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Die katholische Kirche erhob Widerspruch gegen die Tötungsmaßnahmen der Nationalsozialisten, da das Ermorden von Menschen gegen das Gottesbild verstieß. Neben den Krankenmorden beleuchtet Schwedhelm allerdings noch ein zweites Thema in seiner Veröffentlichung: Die Zwangssterilisationen, welche die Nazis im Zuge ihrer Ideologie als Praktik der sogenannten Rassenhygiene verbrochen haben. Kranke Menschen sollten demnach keine Kinder bekommen, um die „Rasse“ zu verbessern. Diese Zwangssterilisationen konnten jedoch nur durchgeführt werden, weil es unter einer Berufsgruppe besonders großen Zuspruch für die sogenannten rassenhygienischen Bestimmungen gab: Unter den Medizinern.

 

O-Ton 3, Hans-Georg Schwedhelm, 35 Sekunden

Also es gibt Leute, die sagen: Die meisten Parteimitglieder der NSDAP gab es bei den Medizinern. Und man muss sagen vor '33 schon mal eine Diskussion über Zwangssterilisation. 1933/34 haben die Nazis durch ein Gesetz das aufgegriffen und es gab Beifall der Ärzteschaft. Aber die Nazis haben natürlich Mitte '33, Ende '33 schon alle fortschrittlichen Ärzte aus den Anstalten und aus den Einrichtungen entfernt. Also alle jüdischen Ärzte waren weg, alle Sozialdemokraten, Kommunisten sowieso. Also das heißt, der ganze medizinische Apparat war schon umgekrempelt und deshalb gab es keinen Protest.“

 

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Umso wichtiger sei es, heutzutage die Verbrechen, die von den Nationalsozialisten und Medizinern begangen wurden, offenzulegen, so Schwedhelm. Sein Ansatz zur lokalen Recherche im Untereichsfeld könne so nur ein Anfang sein. Für den Landkreis Göttingen ist beispielsweise noch nicht bekannt, welche Menschen Opfer der Krankenmorde und Zwangssterilisationen wurden. Schwedhelm sei irgendwann aufgefallen, dass es in der Aufarbeitung der NS-Zeit eine Lücke gibt:

 

O-Ton 4, Hans-Georg Schwedhelm, 38 Sekunden

Man hat sich mit der jüdischen Geschichte, später Sinti und Roma beschäftigt und so weiter. Aber diese große Gruppe der 300.000 Menschen, die ermordet worden sind, hat keine Rolle gespielt. Weil ich das auch so in der Literatur verfolgt habe, habe ich mir einfach die Aufgabe gestellt, wie ist das eigentlich bei uns im Untereichsfeld geschehen? Und da habe ich einfach erstmal die Archive besucht und Stadtarchiv Duderstadt gab es wenig, Landkreisarchiv in Göttingen gab es einige Akten. Und dann habe ich Kontakt zur Asklepios Klinik in Göttingen aufgenommen, dort gibt es ein Museum, da gibt es einen Herrn Meier, der dieses Museum betreut. Und der hat mir geholfen und der hat mir die Transportlisten zur Verfügung gestellt.“

 

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In diesen Transportlisten mit den etwa 250 Namen der Menschen, die aus der Heil- und Pflegeanstalt Göttingen zur Ermordung nach Pirna Sonnenstein und Hadamar abtransportiert wurden, konnte Schwedhelm sechs Personen ausmachen, die im Untereichsfeld gewohnt haben. Danach begab er sich auf die Suche nach den Angehörigen der Opfer. In den Gesprächen mit den Angehörigen stieß Schwedhelm einerseits auf sehr positive Resonanz, andererseits musste er feststellen, dass es auch heutzutage noch Leute gibt, die Menschen mit Behinderung als minderwertig betrachten. In einem Telefonat mit einer angehörigen Person fiel der Satz, der auch den Titel von Schwedhelms Buch darstellt: „Das sind doch keine Opfer des Nationalsozialismus, die waren doch krank.“