Sendung: Mittendrin Redaktion
AutorIn: Tina Fibiger
Datum:
Dauer: 05:20 Minuten bisher gehört: 147
Die Journalistin Natascha berichtet von ihrer Odyssee im Osten der Ukraine und wie sie sich in den Soldaten Sergej verliebt hat, der sie durch die brutale Kampfzone begleitet. Mehrdeutig versteht sich dabei schon der Titel „Zerstörte Straßen“, den Natalia Vorozhbyt ihrem Stationendrama gegeben hat. Es geht um die politischen und die militärischen Verwüstungen, die 2014 zwischen Russland und der Ukraine aufflammten. Aber mehr noch geht es um die mentalen Schlachtfelder und das Ausmaß an menschlichen Bestialitäten. In der Inszenierung von Niklas Ritter am Deutschen Theater kommen sie vor allem sprachlich zum Ausdruck und das auch mit schmerzhafter Wirkung. Tina Fibiger mit Eindrücken von der Premiere:
Dieser Beitrag wird Ihnen präsentiert von: Das Backhaus

Manuskript

Text

Zunächst durchdringt nur die Stimme der Kriegschronistin Natalia den dunklen Bühnenraum. Auch wenn der Raum sich langsam erhellt, sind es noch immer die Schattenfiguren von Jenny Weichert und Marco Matthes, die sich am Rand der Drehbühne an die dramatische Chronik herantasten, von der später auch Daniel Mühe, Paul Trempnau, Nathalie Thiede und Tara Helena Weiß berichten werden: Wie drei Schülerinnen mit den kleinen Zuwendungen im Sexhandel posieren, kichern und tuscheln und was ihnen die uniformierte Kundschaft so alles einbringt: Oder wie ein Schuldirektor nur knapp der Verhaftung und der angedrohten Folter entgeht, weil er ganz schnell verdrängt, dass er eine seiner jungen Schülerinnen am Kasernentor beobachtet hat, die als Prostituierte abrufbar ist.

 

O-Ton 1, Einspieler, „Zerstörte Straßen“, 31 Sekunden

 

Text

Hoch aufragen die dunklen Metallbögen im Bühnenbild von Karoline Bierner. Sie dominieren die Spielfläche wie ein Skelett, das an einen Globus erinnert, von dem nur noch diese eine Hälfte existiert. In der verkommt und verblutet das Seelenleben der Menschen. Und dann greifen oft nicht mal mehr die klassischen Täter-Opfer-Kategorien. Lakonisch, wütend und sehnsüchtig zugleich lotet Jenny Weicherts Natascha das Verhältnis mit ihrem Liebhaber auf Zeit aus und wie sehr sie einem archaischen Männerbild und diesen unbeirrbaren Heldenposen erliegt. In Nathalie Thiedes Sanitäterin, die mit einem Soldaten und der Leiche ihres toten Liebhabers im Kofferraum unterwegs ist, lauert bereits eine mörderische Aggression.

 

O-Ton 2, Einspieler, „Zerstörte Straßen“, 25 Sekunden

 

Text

Regisseur Niklas Ritter lässt diese Episode in Natalia Vorozhbyts Kriegschronik über die alltäglichen mentalen Verwüstungen mit einer weiteren Begegnung kollidieren. Paul Trempnau als Separatist und Tara Helena Weiß als junge Journalistin haben keine Namen bekommen. Ein „Er“ fällt über eine „Sie“ her, die er vergewaltigt, erniedrigt und demütigt. Später wird sie sich mit einem Ziegelstein um das Kunstblut auf seiner Stirn kümmern und mit einem Plastikpenis aus dem Wasserbeutel spritzen. Bei den Worten wollen und müssen auch die martialischen Gesten und Requisiten versagen, weil diese Inszenierung sich der Illustration von Bestialitäten verweigert, mit denen der Text so gnadenlos wütet und wirkt. Abgründe lauern auch in diesem absurd anmutenden Szenario um ein tot gefahrenes Huhn. Die Fahrerin will die bäuerlichen Besitzer großzügig entschädigen und wird für ihre Tierwohlbetroffenheit verprügelt und ausgeraubt. Im täglichen Überlebenskrieg kennt auch das Bauernpaar keine Gnade.

 

O-Ton 3, Einspieler, „Zerstörte Straßen“, 18 Sekunden

 

Text

Die ukrainische Dramatikerin hat ihr 2017 entstandenes Stück für diese Aufführung mit einem Epilog versehen. In dem bringt sie auch ihre Hilflosigkeit als schreibend dokumentierende Kriegschronistin zur Sprache, die das Leiden ihres Landes exportiert: Dass keine Zeile die menschlichen Verwüstungen aufhalten und auch keine dramatische Klageschrift und dass das Nachdenken über eine humanistische Vision trotzdem nicht aufhören darf. Diesem Credo widmet sich auch Regisseur Niklas Ritter mit seinem Team in seiner Inszenierung, die sich keiner Zumutung des Textes verweigert, wie sehr sie auch erschreckt, verstört und ängstigt. Fast spürbar ist die Erleichterung des Premierenpublikums zum Schlussapplaus, das jetzt ein leidenschaftlich couragiertes Ensemble feiert: Wie es hellhörig macht für die Dimensionen des realen Krieges auf den zerstörten Straßen, der bislang noch anderswo die Menschen verwüstet.